Die Geschichte dieses Betriebs geht außerhalb Küstrins bis in Jahr 1820 zurück, ich möchte aber erst im Jahre 1857 beginnen, um die Zusammenhänge besser darstellen zu können. Im schon erwähnten Jahr 1857 wurde in Mannheim durch eine Zusammenarbeit der Firmen Friedrich Wahl und A. Remy & Espenscheid - beide aus Neuwied - die Badische Kartoffelmehlfabrik AG gegründet. Alle drei Firmen blieben aber selbständig. Es wurden mehrere Fabriken in Baden und Hessen, unter anderem in Mühlburg und Gernsheim eröffnet.
Im Jahre 1871 begann der Bau der damaligen Kartoffelmehl-, Traubenzucker- und Sirupfabrik in der Kurzen Vorstadt Küstrins, sie wurde auf dem Areal der ehemaligen Maulbeerplantage erbaut. Diese Plantage war auf Geheiß von Friedrich den Großen zur Seidenraupenzucht angelegt worden und ging später ein. Im Oktober 1871 wurde die Küstriner Fabrik in Betrieb genommen.
Zeitgleich wurde in Mannheim die Norddeutsche Kartoffelmehlfabrik AG gegründet. Die Produktion fand also in Küstrin statt, die Verwaltung aber, saß in Mannheim. Schon 1877/78 wurde die Fabrik in Küstrin auf das Dreifache der bisheringen Kapazität vergrößert, 1884 wurde eine zusätzliche Dextrinfabrik errichtet. Am 23.06.1892 wurde die Aktiengesellschaft in eine GmbH umgewandelt und trug nun den Namen "Norddeutsche Kartoffelmehlfabrik GmbH in Cüstrin". Auch die Verwaltung zog von Mannheim nach Küstrin um.
Im Jahre 1900 kaufte man die 1888 gegründete Stärkefabrik Bentschen, Hardt & Tiedemann in Bentschen (Kreis Meseritz) und schloss sie der Küstriner Fabrik an. Diese Fabrik gehörte bis 1919, als sie wohl von polnischen Aufständischen zerstört worden ist, zum Unternehmen. Im Jahre 1920 wurde Bentschen an Polen abgetreten.
Geleitet wurde die Fabrik von Carl Wahl, einem Sohn des ursprünglichen Firmengründers Friedrich Wahl. Carl Wahl verließ das Unternehmen aus gesundheitlichen Gründen im Jahre 1899 und starb 1901. Nachfolger als Geschäftsführer wurden sein Sohn Rudolf, der in London lebte und sein Neffe Rudolph Wahl jun. aus Köln. Eduard Müller und David Cranz (siehe auch Unterschrift auf der Postkarte in Elsass, unten) wurden Prokuristen. Die Geschäftsführung wechselte in Beginn des 20. Jahrhunderts häufig:
- 1901: Rudolph Wahl jun. starb
- 1902: Eduard Müller und David Cranz werden auch Geschäftsführer
- 1903: Rudolf Wahl (London) legt sein Amt als Geschäftsführer nieder
- 1904: Eduard Müller legt sein Amt als Geschäftsführer nieder
Um 1912/13 fungierten David Cranz und Karl Lanz als Fabrikdirektoren, ihr Stellvertreter war Eugen Beierlein. Der Geheime Justizrat Maximilian Kempner aus Berlin, und Carl Wahl aus London, ein Sohn des 1901 verstorbenen Carl Wahl, leiteten den Beirat des Unternehmens. In diesem Zeitraum war die Fabrik in Küstrin die größte Fabrik dieser Art weltweit und exportierte ihre Produkte in viele Länder. Im Jahre 1912 führte die Firma als Erste in Küstrin den voll bezahlten Urlaub für ihre Arbeiter ein. Das Werk verfügte über eine eigene Feuerwehr, eine Krankenkasse und seit 1907 auch über ein eigenes Kraftwerk.
Im Jahre 1921 bestand die Firma bereits 50 Jahre und beschäftigte etwa 400 Mitarbeiter. Zum Firmenjubiläum wurde eine Denkschrift des Betriebes Cüstrin veröffentlicht (Elsner, Berlin 1921). Mit dem Verlust eines Teils der deutschen Ostgebiete nach dem ersten Weltkrieg brach auch eine Rohstoffquelle für das Werk weg. Während man vor dem ersten Weltkrieg zum Beispiel noch nach England, Dänemark, Schweden, Finnland, aber auch in die USA, Japan und Australien exportierte, brachen diese Absatzmärkte danach weg. Bei voller Auslastung lag die Kapazität der Fabrik Mitte der 1920er Jahre bei 2 bis 3 Millionen Zentner Kartoffeln, innerhalb von 24 Stunden konnten rund 22.000 Zentner verarbeitet werden. Wenn man das mit den Zahlen aus der folgenden Tabelle vergleicht, sagt das schon sehr viel über die wirtschaftliche Situation des Unternehmens in dieser Zeit. Im Jahre 1925 erstreckten sich die Werksanlagen auf einer Fläche von rund 200.000 m². Etwa 1927 beteiligte sich die NKMF an der Stärkefabrik in Oderberg/Mark, ab 1929 übernahm man sie komplett. Im Jahre 1930 folgte eine Erweiterung und Modernisierung der Oderberger Betriebsstätte.
Produktions- jahr | Verarbeitete Kartoffeln (in Zentner) | Verbrauchte Steinkohle (in Zentner) | Anzahl der Mitarbeiter | Produzierte Erzeugnisse (in Zentner) |
---|---|---|---|---|
1909/10 | 2,59 Mio. | 538.246 | ||
1912/13 | 2,13 Mio. | 436.792 | ||
1913/14 | 2,39 Mio. | 436.000 | 350 - 596 | 502.196 |
1921/22 | 175.000 | |||
1923/24 | 200.000 | 61.000 | ||
1927/28 | 1,33 Mio. | 247 - 521 | ||
1930/31 | 795.000 | 124.000 | 158 - 469 |
Quelle: Grundlagen und Möglichkeiten Küstrins als Verkehrs- und Industriestadt im deutschen Osten, Walter Schwarz, 1939
Während des 2. Weltkrieges gehörte auch die Norddeutsche Kartoffelmehlfabrik zu den Küstriner Unternehmen, die Zwangsarbeiter beschäftigten. Da viele Frauen während des Krieges arbeiten mussten, verfügte das Unternehmen über einen eigenen Werkskindergarten. Dessen Leiterin war 1943 eine Frau Stenzel. Im Jahre 1945, während der Kämpfe um Küstrin, wurde das Werk zerstört. Das nebenstehende Foto (Quelle: R. Schenk) zeigt das ehemalige Gelände der Norddeutschen Kartoffelmehlfabrik in Kostrzyn im März 1971.
Nur der Betriebsteil in Oderberg blieb erhalten, wurde aber durch das Oderhochwasser 1947 beschädigt. Das "Deutsche Länder-Adreßbuch für Handel und Industrie" von 1948 nennt den Betriebsteil in Oderberg noch unter dem Namen aus der Vorkriegszeit "Norddeutsche Kartoffelmehlfabrik m.b.H.".
Bild: Archiv Siegfried Neubauer
- Kartoffelstärke/-mehl (Marke: B.K.M.F.)
- Dextrin und lösliche Stärke (Marke N.K.M.F.)
- Stärkesirup/-zucker (Marke: R. & W.)
- Bier- und Rumkulör (Marke: R. & W.)
- Essigkulör
- Dextrose
- Pülpe
- deutsches Puddingmehl
Jahr | Ereignis |
Oktober 1871 | Inbetriebname in Küstrin |
23.06.1892 | Umwandlung in eine GmbH |
1900 | Kauf der Stärkefabrik in Bentschen |
27.03.1902 | Baubeginn (?) einer Dampfmaschine durch G. Kuhn, Stuttgart-Berg. |
28.07.1905 | Baubeginn (?) einer Dampfpumpe durch Kuhn/Maschinenfabrik Esslingen. |
01.09.1906 | Baubeginn (?) von drei Dampfmaschinen durch Kuhn/Maschinenfabrik Esslingen. |
1907 | Inbetriebnahme eines eigenen Kraftwerks |
1919 | Zerstörung der Stärkefabrik in Bentschen |
Oktober 1921 | 50järiges Firmenbestehen |
1929 | Übernahme der Stärkefabrik in Oderberg (Mark) |
1945 | Zerstörung des Werkes |
Weitere Abbildungen und Belege
Quellen:
- Albert Gieseler / www.albert-gieseler.de u.a.
- Grundlagen und Möglichkeiten Küstrins als Verkehrs- und Industriestadt im deutschen Osten, Walter Schwarz, 1939
- Moderne Kunst, Ausgabe 1912/13
- Buch "Ostmark", 1927
- Festschrift anläßlich des 25jähr. Bestehens des Vereins für die Geschichte Küstrins, Professor Dr. Thoma, 1925
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