Von Klaus Thiel
Heute fährt man eher achtlos daran vorbei, wenn man die marode Oderbrücke hinter sich gelassen hat und hält es bestenfalls für einen Teil der 1994 erbauten Grenzabfertigung, des seinerzeit „schönsten Grenzübergangs von der BRD nach Polen“. Dabei ist dieser Komplex sorgsam herumgebaut worden – herumgebaut um eine historische Kostbarkeit, das einzige Haus der ehemals deutschen Altstadt von Küstrin, das Krieg und Nachkriegszeit nahezu unbeschadet überlebt hat.
Die ehemalige Villa Lösch als Teil der Grenzabfertigungsanlagen (Foto: Siegfried Neubauer)
Dieses Haus, dessen Schönheit sich dem Betrachter heute erst auf den zweiten Blick erschließt, war von Anfang an etwas Besonderes. Es gehörte dem Erbauer, dem Hoch- und Tiefbauunternehmer Rudolf Lösch, zuvor in der Halben Stadt ansässig. Er war der Generalauftragnehmer für den Abriss der Festungsteile, die nach 1920 endlich der Spitzhacke zum Opfer fielen und damit den Weg für eine dringend notwendige Erweiterung der Altstadt ebneten. Walter Hecht, Stadtbaurat seit 1908 und fast bis zum bitteren Ende der Stadt, hatte diesen längst überfälligen Prozess energisch vorangetrieben. Er, den man zweifellos die einzige wirkliche Persönlichkeit im Küstrin des zwanzigsten Jahrhunderts nennen kann, hatte einen Traum, der nicht durch sein Verschulden nur eine Vision blieb: er wollte die Neustadt, die sich seit 1900 zum eigentlichen Zentrum Küstrins gewandelt hatte, so eng wie möglich an die historische Altstadt anschließen. Er ging mit gutem Beispiel voran, indem er sich sein eigenes Haus fast an der Warthe bauen ließ, auf einem von der Stadt großzügig geschenkten Grundstück, das sich allerdings als unbebaubar erwies. Mit großem Aufwand musste er eine Betonwanne unter dem Fundament errichten lassen. Die Altstadt sollte durch großzügige Neubauten bis unmittelbar an die Eisenbahn-Linie Stettin-Breslau erweitert werden. Ohne die aktive Mitarbeit des Unternehmers Lösch hätte sich das zumindest verzögert. Lösch soll auf die blendende Idee gekommen sein, den trockengelegten Festungsgraben vor der Altstadt einfach mit dem anfallenden Schutt der Mauern aufzufüllen. Dadurch wurde der Zeitraum bis zu einer möglichen Bebauung drastisch reduziert: gleich nach 1930 entstanden die ersten Neubauten, vor allem Villen, aber auch Wohnblöcke, die vorzugsweise von Militärangehörigen bezogen wurden. Aus der einst geplanten Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße entlang der Altstadt wurde nichts, die nördliche Hälfte wurde zur Friedrichstraße, die Fortsetzung in Richtung Göritz zur Wallstraße.
Es ist verständlich, dass sich Lösch selbst eines der markantesten Grundstücke sicherte: das spätere Haus Nr. 7 in der Friedrichstraße. Durch die Biegung der Reichsstraße 1 fuhr man einst wie heute fast direkt auf dieses Haus zu – Nr. 6 lag zurückgesetzt in Richtung Glacis, die Friedrichstraße 2 – 5 bestand aus einem kompakten Block von Miets-häusern, die ebenfalls vorwiegend von Militärangehörigen bezogen wurden. Direkt vor diesem Wohnblock lag in den letzten Jahren des deutschen Küstrin die Endhaltestelle der Städtischen Straßenbahn.
Die Villa Lösch war in jeder Hinsicht ein Blickfang ! Der Hausherr hatte den Bau einem jungen Architekten des Dessauer Bauhauses übertragen, der hier einen Prototyp schuf, der zum Modell vieler Bauten in aller Welt wurde. Da dieser junge Mann gleich zu Anfang der dreißiger Jahre nach Israel auswanderte, sollte es einen nicht verwundern, dass man dieses Haus fast viertausendmal wiedersehen kann: allerdings in Tel Aviv !
Kurioserweise steht in Weimar ein Haus, das man fast als Vorstudie, als Stilübung für die Lösch-Villa bezeichnen kann:
Villa am Horn, Weimar (Foto: siehe 3, unten)
Walter Hecht mag den Bauplan für dieses Haus ironisch lächelnd genehmigt haben. Vermutlich gefiel es ihm sogar, obwohl seine eigene Formsprache andere Wege ging – sein gut erhaltenes Meisterstück, das heutige Kostrzyner Kulturzentrum, ist als eine verspielte Jugendstil-Apotheose so etwas wie das genaue Gegenstück dieses puristischen Baus.
1931 oder 1932 bezog die Familie Lösch das neue Haus, zusammen mit dem Oberst Ernst Otto und dessen Familie in der Einlegerwohnung. Das Haus sah ungefähr so aus wie heute – wenn man sich die späteren Dachaufbauten wegdenkt. Und es stand nicht ganz frei, es wurde durch eine massive halbhohe Mauer von der Straße abgeschottet. Vor dem Hause stand ein Fahnenmast, um dessen fast durchgehende Beflaggung sich wohl der Einleger-Oberst kümmerte.
Die Villa Lösch vor 1945 (Foto: Dr.Tamm-Bildarchiv)
Noch im Jahre 2014 erinnerte sich Dr. Rudolf Tamm, Senior des alten Küstrin, dass er sich in diesem Hause gut auskannte, weil einer der beiden Otto-Söhne mit ihm die Schulbank im Gymnasium teilte:
„Dieses auch Lösch’sche Villa genannte Wohnhaus zeigt alle Merkmale des Baustils der Neuen Sachlichkeit: So hat es einen einfach gegliederten, rechtwinkligen Grundriss, eine schmucklose fast weiß geputzte Sandsteinfassade mit klarer Fensterordnung, und ganz typisch finden sich zwei vertikale nach oben gerichtete Fensterbänder rechts und links der Haustür.“ ¹)
Während Lösch und seine Gäste sich an dem neuen Haus erfreuten, wurde es natürlich zum Ärgernis für die neuen Herren Küstrins nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Walter Hecht wurde in den vorzeitigen Ruhestand geschickt – aus dem man ihn reumütig Jahre später, als es drunter und drüber ging, zurückholte, und Rudolf Lösch wurde aufgefordert, sein „undeutsches Haus“, das ja nun in der Tat ein Solitär in Küstrin war – besonders die angrenzenden Villen besaßen alle ein aufwändig gestaltetes Walmdach ! – baulich zu verändern. Mündlich ist überliefert, dass man ihn schließlich mit einem Brief belästigte, dessen Schluss gelautet haben soll: „Auf ein deutsches Haus gehört auch ein deutsches Dach !“
Aber Rudolf Lösch besaß eine dicke Haut, und der einliegende Oberst hatte auch ein Wort mitzureden. Immer neue Ausreden fielen ihm ein, um den törichten Umbau hinauszuzögern – und mit dem Kriegsausbruch 1939, als alle privaten Bauvorhaben „aufgeschoben“ werden mussten, hatte sich die Angelegenheit für ihn erledigt. Und 1938 wechselte sein Mieter – vermutlich, weil das Festungsstatut von Küstrin durch den Führer aufgehoben worden war. Nun wurde der Oberleutnant Dreher sein neuer Hausgenosse.
Von ihm und seiner sehr viel jüngeren Frau ist eine amüsante Anekdote überliefert: diese Frau, die er abgöttisch verehrte, besaß ein Geheimnis, das sie sorgfältig zu verbergen wusste – sie hatte ein künstliches Gebiss! Eines Tages, im Frühsommer 1944, passierte ihr das Malheur, dass das Oberteil an einem Brötchen zerbrach ! Guter Rat war nahe: nebenan, in der Nummer 8, lebte und praktizierte der beste Zahnarzt Küstrins, Dr. Emil Franck, zusammen mit seiner Frau. Francks Zahntechniker war längst eingezogen, deshalb hatte man ihm einen Jugoslawen zur Verfügung gestellt, den er sich morgens aus dem Stalag III C in Altdrewitz abholen durfte, um ihn abends zurückzubringen. Dieser allseits beliebte „Ferdi“ bewährte sich auch in diesem Notfall. Frau Dreher versteckte sich im Zahnarzt-Keller, während ihr besorgter Gatte bereits die Polizei alarmiert hatte, um seine abgängige Gattin zu suchen. Nach ein paar Stunden, als das Gebiss repariert war, schlich sie sich durch den Garten zurück und gab vor, sie wäre im nahen Glacis „nur ein bisschen eingeschlafen…“
Im Februar 1945 verlieren sich die Spuren der Familien Lösch und Dreher, Frau Franck überlebte und eröffnete in Berlin-Karlshorst eine Praxis. 1947 war es ihr im Einvernehmen mit hohen sowjetischen Offizieren möglich, in zwei Besuchen ihren Behandlungsstuhl und andere wichtige Materialien aus der leidlich erhaltenen Friedrichstraße 8 zu holen – sie war erstaunt über den guten Zustand der Lösch-Villa, die offensichtlich sogar bewohnt war, während ihr eigenes Haus verfiel.
Es wird ein weiteres Geheimnis bleiben, ob das Fehlen eines hohen Dachstuhls, der beim Beschuss zuerst in Brand gerät, wirklich zum Überleben von Nr. 7 beigetragen hat. Inmitten des Infernos der letzten Kriegswochen in der Altstadt bleibt es ein unbegreifliches Wunder – und als völlig ungewöhnlich haben es auch die ersten Polen empfunden, die sich nach 1945 vorsichtig diesem Haus näherten.
Alicija Klaptocz, die große alte Dame des heutigen Kostrzyns, erlebte dieses Phänomen mit ihren Kinderaugen, als ihr Vater, dem man ein Zimmer in diesem blendend erhaltenen Hause angeboten hatte, sie 1947 an der Hand genommen hatte:
„Als wir an diesem Sonntag im Meer der Trümmer der Altstadt weiterfuhren, öffnete sich plötzlich wie ein weißes Segel in den rauen Gewässern der Ruinen ein dreistöckiges Haus mit einer ganz modernen Architektur – einfach unglaublich ! Es war ein Trugbild und dennoch keine Illusion. Aber es stellte sich bald heraus, dass Vater ganz bewusst dieses Haus als Ziel unserer Reise ausgewählt hatte.“ ²)
Die ehemalige Villa Lösch 1964 vom Berliner Tor aus gesehen. (Foto: Kaiser-Bildarchiv, via Siegfried Neubauer)
Die ehemalige Lösch-Villa um 1970. (Foto: Leonie Walter)
Das „Weiße Haus“, wie es von den Polen von Anfang an genannt wurde, war bis zur Grenzöffnung durchgehend von polnischen Familien bewohnt, die sicher nicht allzu erfreut waren, dass sie der „neuen Zeit“ weichen mussten. Aber das Haus blieb gottlob bei allen Veränderungen unangetastet und nahm zunächst für Jahre das polnische Zollamt auf. Heute ist es ein ganz normales Bürohaus, aber es bleibt eine einmalige historische Kostbarkeit: das „Weiße Haus von Küstrin“.
Quellen:
- ¹) in Königsberger Kreiskalender, Bad Freienwalde 2014
- ²) Alicija U. M. Klaptocz, Kostrzynskie klimaty, Kostrzyn nad Odra, 2010
- ³) Westansicht des Musterhauses „Am Horn“,