I. Zur Jahreswende 1944/45 wurde uns in Küstrin schon vorausahnend klar, daß, wenn es unseren Soldaten nicht gelänge, die Weichsellinie zu halten, auch Küstrin in absehbarer Zeit mit einbezogen würde. Daß allerdings so schnell die Russen den Raum zwischen Weichsel und Oder mit ihren gewaltigen Truppenmassen überfluten würden, hätte keiner gedacht. – Als allerdings Posen fiel, war es mir nach gründlichem Kartenstudium klar, daß Küstrin als letztes Festungsbollwerk vor Berlin bald vom Kampf umtobt sein würde und trotz bestgewollter Abwehrbereitschaft dem Ansturm nicht würde standhalten können.

II. Küstrin wurde zunächst im Januar eine Flüchtlingsdurchzugsstadt. Auf vereisten Straßen, in schneidender Ostwindkälte kamen die armen Menschen mit Pferd und Wagen und zu Fuß durch Küstrin gezogen, alles westwärts mit dem Ziele, möglichst schnell über die Oder zu kommen. Die Bahnhöfe waren so vollgestopft mit Menschen und Gepäck, dass kein geregelter Verkehr mehr möglich war. – Schwerkranke, Sterbende, vor allem aber tot gedrückte oder erstickte Kinder gab es in Mengen. – Unvergeßlich ist mir als Pfarrer die Nacht vom 28. zum 29. Januar. Nach Mitternacht wurde ich auf den Bahnhof Küstrin-Neustadt gerufen, um in dem Flüchtlingselend einmal wieder mit Rat zu schaffen:

N.S.D.A.P. und N.S.V., die ja nicht gerade gern das Eingreifen des katholischen Pfarrers sahen, versagten in dem Durcheinander fast gänzlich. Einer jungen Arztfrau aus dem Warthebruch galt es, halb im Guten, halb mit Gewalt das tot gedrückte und erstickte Kindchen abzunehmen, und sie selbst dazu zu bringen, möglichst schnell nach der Steiermark weiterzureisen. Der kleine tote Säugling, ein lieber kleiner Junge, wurde mir von einem S. D. Mann ins Pfarrhaus gebracht. Es gelang mir sogar, noch einen Kindersarg zu kaufen und am 31.1. früh um 10 Uhr trug ich selbst mutterseelenallein das tote Kind zum Friedhof, wohin sich schon keiner mehr wegen der Russeneinbruchgefahr traute. Der Liebesdienst an dem kleinen Toten wurde mir wahrhaft zum Schutzengel, denn schon um 14 Uhr desselben Tages (31.1.) geschah der erste verwegene russische Panzereinbruch nach Küstrin-Neustadt, wo ich mich noch bis 12 Uhr befand. Den guten Schutzengel sollten wir vom Küstriner Pfarrhaus bald noch öfters merken.

III. Das kirchliche Leben konnte trotz des Durcheinanders von Flüchtlingen und zurückflutender Wehrmacht den ganzen Januar aufrecht erhalten werden. Jeden Sonn-, Feier- und Werktag konnte bis 31.1. Pfarrer und Kaplan noch in der Christuskönigkirche zelebrieren. Auch die Aussenstationen Sonnenburg, Golzow und Seelow hatten im Januar noch ihre Gottesdienste. Am Sonntag, dem 21.1. war der Pfarrer das letzte Mal zusammen mit dem Diasporalaienapostel Herrn Carl Thielsch per Rad zu Gottesdiensten in Golzow und Seelow, und brachte die hl. Sakramente auch den Gläubigen auf den entlegensten Gehöften des Oderbruchs.

Ab 1. Februar musste der tägliche Gottesdienst im Pfarrhaus gehalten werden, da der Beschuß auf die nunmehr eingeschlossene Festungsstadt einsetzte. Der letzte Gottesdienst in der Christuskönigkirche war am 31.1. das feierliche Beerdigungsreqiuem für verstorbene ehrwürdige Schwester Jovita, die der Herrgott noch rechtzeitig von ihrem schweren Krebsleiden erlöste. – Die wichtigsten Ereignisse und Termine im Februar waren nun folgende: Das Erdgeschoß des Pfarrhauses wurde mit Kampftruppen der SSTruppe Reinefart belegt, die sich leider nicht gut benahmen. – Da ja das Küstriner Pfarrhaus direkt an dem Festungswerk Kietzer Tor lag, konnten wir uns ja auf manches gefasst machen. Das Pfarrhaus bot einen guten Blickpunkt auf die ablaufenden Kampfereignisse. Man sah die feindlichen Panzer- und anderen Verbände bis auf 500 m vor dem Festungsgürtel in Stellung gehen, und erlebte dann das Schlachtgemetzel, wenn unsere schwachen Truppen den Feind aus den Stellungen des Schöpfwerkes oder Bienenhofes wieder herausdrückten. Wir schlossen alle tatsächlich mit unserem Leben ab, da ja ganz plötzlich der Einbruch der Russen in die Altstadt zu erwarten war.

Keiner aber von unserer Pfarrgemeinschaft oder noch dagebliebenen Gemeindemitgliedern dachte an Flucht. Alle wollten wir in Küstrin sterben, was uns gar nicht so schwer geworden wäre, weil man ja tagtäglich das Sterben von vielen Soldaten und Zivilpersonen durch Kampfhandlungen oder durch Beschuß erlebte. Auch seelisch war man auf den plötzlichen Tod vorbereitet. Pfarrer und Kaplan verkrochen sich auch nicht ängstlich im Pfarrhaus, sondern waren unter steter Lebensgefahr bis über die unter ständigem Beschuß liegenden Warthe- und Oderbrücke unterwegs, um den in den Kellern hockenden Gläubigen Trost, Ausrichtung und den Leib des Herrn zu bringen. Auch die seelsorgliche Betreuung der kämpfenden Truppe wurde in den Stellungen, Feld- und Hauptverbandsplätzen und Lazaretten geleistet. Manchem braven Soldaten drückte ich die Augen zu. Hunderte von Militär- und Zivilpersonen beerdigte ich auf dem Friedhof an der Friedenskirche oder auf anderen Plätzen. – Leider muß gesagt werden, dass kein evangelischer Geistlicher in Küstrin geblieben war, und Pfarrer und Kaplan sich um die von ihren Hirten verlassene Herde kümmerten, was das Ansehen der katholischen Geistlichen bei den Andersgläubigen gewaltig steigerte.

Treu an der Seite der Geistlichen arbeitete Schwester Nikodema in der Familien-, Kranken- und Verwundetenbetreuung. Einmal wären beinahe Pfarrer und Schwester Nikodema auf einem Lazarettgange zusammen ums Leben gekommen, als ein Haus, vor dem sie standen, einen Treffer erhielt, und die Splitter und Ziegelsteine nur so herumflogen. Aber der Herrgott mußte uns scheinbar noch brauchen, und so schüttelten wir Staub, Dreck und Schrecken ab und gingen weiter an unsere Arbeit.

Am 3.2. nachts explodierten 15 Meter vom Pfarrhaus zwei Grantwerfergeschosse im Kietzer Tor, so dass alle Fensterscheiben herausflogen, wir aus den Betten gehoben wurden, uns aber nichts passierte, obgleich die Granat- und Glassplitter wie gesät lagen. Am 11.2. (Stg.) zerstörten Panzergranaten das Dach des Pfarrhauses, zwei Granaten schlugen gerade ein, als die kleine Gemeinde beim Messopfer versammelt war. Keiner wurde verletzt, obwohl in den Nachbarzimmern die Decken herunterkamen. Am Sonnabend, d. 17.2. mittags wurde das gesamte Pfarrhaus durch Dutzende von Trefffern total zerstört, aber keiner der Bewohner kam ums Leben, da der Keller und der rückwärtige Ausgang hielten. Pfarrer und Kaplan waren bei dieser Katastrophe dienstlich unterwegs und konnten nur bis auf 200 Meter Entfernung an das einstürzende Haus sich heranpirschen, so „eisenhaltig“ war die Luft. Um so größer war die Freude, daß keiner im Keller (Vater, Mutter, Schwester, Wirtschafterin, Hausgehilfin und Soldaten) Schaden gelitten hatte.

Auch das Allerheiligste, das die Priester immer bei sich trugen, war gerettet. – Trotz der Zerstörung des Hauses hausten wir dann noch weiter im Parterre gelegenen Paramentenzimmer und im Keller, und wie ein Blitz aus heiterem Himmel, schlimmer als der tollste Beschuß traf uns der Räumungsbefehl für Küstrin am 19. Februar. Am 18., 19. und 20.2. feierten wir zum letzten Mal in Küstrin das hl. Opfer in einem ganz gebliebenen Zimmer der Schwesternstation. – Ich suchte den Ausweisungsbefehl des SS-Kommandanten wenigstens für mich rückgängig zu machen, aber es war nicht möglich; im Gegenteil, man gab mir die Aufgabe, eine Flüchtlingsgruppe aus dem eingeschlossenen Küstrin herauszuführen. – So verließen wir alle in der unvergeßlichen Nacht vom 20. zum 21. Februar zu Fuß in Richtung Gorgast / Berlin durch die deutsche und russische Feuerlinie Küstrin, das damals schon zu 60 % zerstört war. Mehr als einen Rucksack, Koffer und Aktentasche konnte keiner mitnehmen, aber Christus ging in der Krankenpatene auf diesem Schicksalswege in den Tod oder in ein neues Leben mit uns.

IV. Ehe ich über unser Flüchtlingsschicksal weiter berichte, ein Wort über das Schicksal der Kirche, ihrer Akten, Vermögenswerte und Kultgeräte. – Bis zum 20. Februar hatte unsere schöne Christus Königkirche, obwohl sie doch in offenem Frontbeschuß lag, keinen wesentlichen Schaden gelitten. Kelche, Paramente, Wäsche usw. waren in einem fensterlosen Keller untergebracht, zu dem es nur einen geheimen Locheinstieg durch die Toilette neben der Hauptsakristei gab. Kelche und Monstranz wurden daselbst tief in einer Kiste eingegraben. Auch aus dem Pfarrhaus schafften wir viele Sachen nach dort, weil da nach aller Eingeweihten Meinung am ehesten die Gewähr der Erhaltung gegeben war. Die Matrikel-Bücher, Errichtungsurkunde und Chronik der Pfarrei,  Versicherungsakten und anderes sind im Pfarrhaustresor eingeschlossen, die Akten im Keller des Pfarrhauses untergebracht. Die Sparkassenbücher, Depositenaufstellung und Kontoauszüge habe ich mitgenommen.

V. Der Flüchtlingsweg führte uns aus der Kampfhölle von Küstrin zunächst nach Berlin, wo sich dann alles zersplitterte. Herr Kaplan Kuschbert konnte in Birkenwerder unterkommen, wo er auch bis heute als Kaplan tätig ist. Ich kam mit meinen angehörigen nach Woltersdorf bei Erkner, wo ich dem Herrn Pfarrer von Erkner alle seelsorgliche Arbeit abnahm. Am 20.3. siedelten wir in den Kreis Belzig nach Lehnsdorf über wo eine größere Anzahl Küstriner evakuiert war. Im Einverständnis mit dem Berliner Ordinariat und dem Herrn Pfarrer von Belzig übte ich zunächst von Lehnsdorf her mit dem Fahrrad die Seelsorge im Außenbezirk Wiesenburg (Mark) aus. Im Mai und Juni erlitt diese Tätigkeit eine vorübergehende Unterbrechung infolge der Okkupation, und ich musste, wie meine Angehörigen mit in der Landwirtschaft fürs tägliche Brot arbeiten. Ein bitteres Brot für einen Geistlichen. – Am 9. Juli konnte ich dann endgültig nach Wiesenburg übersiedeln und leiste die Seelsorgearbeit in diesem großen Bezirk, der vollgestopft ist mit Flüchtlingen und Evakuierten. Sonntäglich halte ich bis zu drei Gottesdienste in weit auseinander liegenden Ortschaften, habe wöchentlich Unterricht, Krankenbesuche und Beerdigungen, sodaß ich dienstlich vollkommen ausgelastet bin. Es ist doch nun auch schön, wenn man als Pfarrer, der auch alles verloren hat, den vielen Flüchtlingen und Ärmsten der Armen seelsorglich helfen kann.

VI. Zweimal trieben mich nun das Pflichtgefühl und die Sehnsucht in das Küstriner Gebiet zurück. Am 26. Juni fuhr ich abends mit dem einzigen Zuge unter polnischer Regie von Berlin-Lichtenberg nach Küstrin. Die Deutschen durften nur zwischen den Wagen, auf den Trittbrettern und in einem Bahnpostwagen zusammengepfercht, mitfahren. Unterwegs wurden wir alle restlos ausgeplündert, einigen sogar die Sachen vom Leibe gerissen. – Mitternacht – Ankunft in Küstrin-Neustadt. – Die Nacht verbrachte ich in einer Hausruine bei der zerstörten evangelischen Friedenskirche. Am Morgen des 27.6. machte ich mich auf den Weg nach der Altstadt zu unserer Christus König-Kirche. Der Befund ist folgender: Der Turm ist in die Vorhalle gestürzt, das Ziegeldach ist auch weg. Die Wände haben einige Durchschüsse. Z.T. ist die Basilike-Holzdecke, ganz erhalten die Haupt- und Seiten-Altarräume, die beiden Sakristeien und die beiden Keller. Bänke sind nicht mehr vorhanden. Der Keller, in dem die Sachen untergebracht und eingegraben waren, ist leider gefunden und restlos ausgeplündert worden. Dann ging ich das Pfarrhaus suchen. Von diesem ist nichts übrig geblieben als ein 2-3-m hoher Schutthaufen; ob der Keller darunter gehalten hat, konnte ich nicht feststellen. Auch die alte katholische Kirche beim Pfarrhaus ist ganz zerstört, sodaß nicht einmal eine Außenmauer stehengeblieben ist. Und so wie diese Grundstücke, so ist auch ganz Küstrin Altstadt und Neustadt zerstört. Ich habe wahrhaftig kein ganzes Haus gefunden. Auch keine Zivilperson traf ich dort.

So wanderte ich am Nachmittag aus diesem Totenfeld über die Oder und lief zu Fuß über Seelow nach Berlin, wo ich am 29.6. eintraf und dann seelisch und körperlich schwer mitgenommen nach Wiesenburg zurückfuhr. Die polnische Bahn lehnte die Beförderung von Deutschen auf der Strecke Küstrin – Berlin ab; ich hatte auch von der Hinfahrt die Nase voll. Am 12. 9. machte ich eine zweite Forschungsreise in den Oderbruch nach Seelow (Mark). Über Eberswalde fuhr ich bis Werbig/Ostbahn und lief nach Seelow. Auch diese Landstadt meiner Pfarrei ist bis zu 60% zerstört. Ich hatte feste Hoffnung und Absicht, dort seelsorglich neu anzufangen, aber es war noch nicht so weit. Von den dort und in der Umgebung ansässigen Katholiken, viel waren es ja nie, waren erst sechs Erwachsene und drei Kinder zurückgekommen, die zur Zeit todkrank und ausgehungert waren und kaum ein Dach über dem Kopf hatten. Andere Flüchtlinge oder Siedler waren noch nicht da. Mit dem zurückgekehrten Gemeindemitglied Herrn Bulang, beriet ich hin und her, ob ich nicht doch schon umziehen könnte, aber das Ergebnis war nach reiflicher Überlegung negativ. Es fehlte an jeder Wohnungsmöglichkeit, auch die Wirtschafts- und Ernährungslage war noch ganz ungeklärt. Mein Wiesenburger Brotrest wurde als Kuchen von den ärmsten Einwohnern gegessen, da es nicht einmal regelmäßig Brot dort gab und dann auch nur welches aus verbranntem Getreide. Dies bestätigte mir aber auch auf meinem Fußrückmarsch nach Berlin der Herr Pfarrer von Müncheberg, der auch bald nicht mehr wusste, wie richtiges Brot aussah. Ehe ich nach Berlin zurückwanderte, spendete ich den acht Katholiken die aus Wiesenburg mitgebrachte Heilige Kommunion.

So beschloß ich, den Winter in Wiesenburg zu verbringen, habe aber die feste Absicht, im Frühjahr 1946 in den deutsch gebliebenen Pfarrbezirk zurückzukehren. Da mich soeben, am 1.12. 1945, von Ordinariatsrat Dr. Wuttke die Nachricht erreichte, dass in Küstrin zwei Flüchtlingsumsiedlungslager jetzt sind, will ich sofort nächste Woche mich nach dort begeben, um möglichst bald nach dort überzusiedeln und seelsorglich zu arbeiten. Möge der Herrgott seinen Segen und alle kirchlichen Stellen ihre tatkräftige Mithilfe dazugeben, da ich nichts mehr besitze und in diesem polnisch/russischen Notstandsgebiet auch nichts vorfinde.

Wiesenburg (Mark), den 2. Dezember 1945
gez. Alois Pech
Pfarrer.

 

Quelle:

Abschrift aus der Chronik der Katholischen Pfarrgemeinde Seelow-Golzow von Helga Grune am 27.06.2009 aus dem Archiv der Kath. Kirchengemeinde Heilig Kreuz Frankfurt (Oder)